Vom verzweifelten Versuch der Menschen in Port-au-Prince, sich vor Ganggewalt zu schützen (2024)

Täglicher Kampf ums Überleben

Vom verzweifelten Versuch der Menschen in Port-au-Prince, sich vor Ganggewalt zu schützen

Vom verzweifelten Versuch der Menschen in Port-au-Prince, sich vor Ganggewalt zu schützen (1)

Männer gehen in Deckung, als die Bereitschaftspolizei Tränengas einsetzt, um die Menschen in der Nähe des Nationalpalastes in Port-au-Prince, Haiti, zu vertreiben.

Quelle: Odelyn Joseph/AP/dpa

Die Lage in der von Ganggewalt erschütterten Hauptstadt Haitis wird immer verzweifelter. Manche vergleichen Port-au-Prince mit einem Gefängnis – die Einwohner sind unfähig zur Flucht vor dem Terror.

Port-au-Prince. Es sind verzweifelte Szenen, die sich in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince abspielen. Einwohner eines Wohnviertels installieren am Eingang eine Barrikade. Funken sprühen, als ein Mann Metall schneidet, während andere Sand schaufeln und Zement mischen. Ein Haitianer brüllt in ein Megafon, neben ihm steht ein kleiner Pappkarton mit Banknoten, jeweils zehn haitianische Gourdes wert, umgerechnet sieben Cent. „Gebt, was ihr könnt!“, ruft der Mann der Menschenmenge zu, die sich neugierig um ihn versammelt hat. Jede Gabe ist willkommen, um die Barriere zu finanzieren, für deren Kauf und Eigeninstallation die Gemeinde kürzlich gestimmt hatte.

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Allein von Januar bis Ende März sind in Port-au-Prince mehr als 2500 Menschen getötet oder verletzt worden. „Jeden Tag, wenn ich aufwache, finde ich eine Leiche“, sagt Noune-Carme Manoune, eine Einwanderungsbeamtin.

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Größter Hafen des Landes ist lahmgelegt

Der Alltag in Port-au-Prince ist für einen großen Teil der Menschen zu einem täglichen Kampf ums Überleben geworden, während die Gangs immer stärker die Oberhand gewinnen, die Polizei heillos überfordert und die Regierung weitgehend nicht präsent ist. So errichten manche Einwohner Barrieren. Andere drücken aufs Gaspedal, wenn ihr Weg sie in die Nähe von Gebieten unter Kontrolle der Banden führt. Die wenigen Leute, die es sich leisten können, legen Vorräte an Nahrung, Wasser, Medikamenten und Bargeld an – all dies wird zunehmend rarer, seit der internationale Hauptflughafen Anfang März geschlossen wurde. Der größte Meereshafen des Landes ist weitgehend durch plündernde Gangs lahmgelegt.

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Wegen Krise in Haiti: Mehrere Länder evakuieren ihre Bürger
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Die Evakuierungsflüge aus Haiti wurden in den letzten Tagen fortgesetzt. Ein UN-Bericht warnt vor einer Verschärfung der Lage in dem Karibikstaat.

Quelle: Reuters

„Leute, die in der Hauptstadt leben, sind eingeschlossen, sie können nirgendwo hin“, fasste Philippe Branchat, Leiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Haiti, kürzlich die Lage zusammen. „Die Hauptstadt ist von bewaffneten Gruppen und Gefahr umgeben. Es ist eine belagerte Stadt.“

Mobiltelefone klingeln oft, Alarmbenachrichtigungen über Schüsse, Entführungen und Tötungen häufen sich. Manche Supermärkte haben so viele bewaffnete Wachleute, dass sie kleinen Polizeistationen ähneln. Früher kamen Angriffe von Gangs nur in bestimmten Gegenden vor, aber jetzt können sie sich überall und jederzeit ereignen. Schulen und Tankstellen haben dichtgemacht, Benzin auf dem Schwarzmarkt kostet jetzt umgerechnet 2,20 Euro pro Liter – rund drei Mal so viel wie der offizielle Preis. Bankkunden dürfen nicht mehr als – wiederum umgerechnet – 94 Euro am Tag von ihrem Konto abheben, und es dauert einen Monat oder länger, bis Schecks verrechnet werden. Früher waren es drei Tage. Polizisten müssen Wochen auf ihre Bezahlung warten. „Jeder steht unter Stress“, sagt Isidore Gédéon, ein 38-jähriger Musiker.

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Ein gepanzerter Polizeiwagen patrouilliert in Port-au-Prince.

Quelle: Odelyn Joseph/AP/dpa

Gangs, die schätzungsweise 80 Prozent von Port-au-Prince kontrollieren, starteten Ende Februar koordinierte Angriffe gegen wichtige Infrastruktur im Land. Sie setzten Polizeistationen in Brand, nahmen den Flughafen ins Visier, stürmten die beiden größten haitianischen Gefängnisse und befreiten mehr als 4000 Insassen. Regierungschef Ariel Henry hielt sich damals in Kenia auf, um sich dort für die Entsendung einer UN-gestützten internationalen Polizeitruppe nach Haiti einzusetzen. Er sitzt außerhalb des Landes fest, und ein mit der Auswahl eines neuen Ministerpräsidenten und Kabinetts beauftragter Übergangsrat könnte in den nächsten Tagen vereidigt werden. Henry hat versprochen zurückzutreten, wenn die Nachfolge geklärt ist.

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Aber nur wenige glauben, dass das die Krise beenden wird, zumal es nicht mehr nur die Gangs sind, die Gewalt entfesseln. Haitianer üben zunehmend Selbstjustiz aus, eine als „bwa kale“ bekannte Bewegung wird bereits für den Tod von mehreren Hundert mutmaßlichen Gangmitgliedern oder deren Verbündeter verantwortlich gemacht. „Es gibt bestimmte Gemeinden, in die ich nicht gehen kann, denn jeder hat Angst vor jedem“, sagt Gédéon. „Du kannst unschuldig und am Ende tot sein.“

„Das ist die Hölle“

Mehr als 95.000 Menschen sind allein innerhalb eines einzigen Monats aus Port-au-Prince geflohen, vor den Gangs, die Gemeinden überfallen, Häuser in Brand stecken und Einwohner in Gebieten töten, die von ihren Rivalen kontrolliert werden. 160.000 Menschen in der Hauptstadt sind IOM zufolge durch die Gewalt obdachlos geworden.

„Das ist die Hölle“, sagt Nelson Langlois, ein Produzent und Kameramann. Er, seine Frau und drei Kinder haben zwei Nächte flach auf dem Hausdach liegend verbracht, während Gangs in der Gegend wüteten. „Wir haben immer wieder nach unten gespäht, um zu sehen, wann wir flüchten konnten“, schildert der Mann. Am Ende musste sich die Familie mangels Flüchtlingsunterkünften aufspalten, er wohnt jetzt in einem Voodoo-Tempel, und seine Frau und Kinder sind anderswo in Port-au-Prince.

Wie die meisten in der Stadt bleibt Langlois gewöhnlich im Haus. Die Tage, in denen er auf staubigen Straßen spontan Fußball spielte oder Bierabende in Bars verbrachte, gehören längst der Vergangenheit an. „Es ist ein Open-Air-Gefängnis“ sagt Langlois über Port-au-Prince. Er spielt auch kein Schlagzeug mehr, was er früher gerne tat – Bars und andere Veranstaltungsorte sind geschlossen. Um über die Runden zu kommen, verkauft Langlois jetzt kleine Plastikbeutel mit Wasser auf der Straße und hat gelernt, einige Handwerksarbeiten zu verrichten.

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Die EU hat kürzlich den Start einer humanitären Luftbrücke von Panama nach Haiti bekannt gegeben, mehrere Flugzeuge mit Dutzenden Tonnen an Versorgungsgütern sind bereits in der nördlichen Stadt Cap-Haïtien mit dem einzigen noch in Betrieb befindlichen Airport im Land gelandet. Aber es gibt keine Garantie, dass die wichtigsten Dinge jene erreichen, die sie am meisten benötigen. Viele Haitianer sind angesichts des andauernden Kugelhagels in ihren Häusern gefangen, kommen nicht an Nahrung heran.

Hilfsgruppen zufolge stehen zwei Millionen Haitianer am Rande einer Hungersnot. Mehr als 600.000 davon sind Kinder.

RND/AP

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